Die EU muss am Westbalkan in Vorlage gehen.
Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien wurde bereits vor 20 Jahren eine Zukunft in der EU versprochen.
Was ist seitdem passiert?
Wenig. Mit vier Ländern wurden Beitrittsverhandlungen eröffnet, bei allen vieren herrscht aber quasi Stillstand. Die beiden anderen Länder stehen noch ganz am Anfang: Bosnien und Herzegowina verfügt seit Ende 2022 über den Beitrittskandidatenstatus; Kosovo hat seinen Beitrittsantrag im Dezember 2022 an die EU übermittelt – ohne bisherige Entscheidung unsererseits, wie wir damit verfahren wollen.
Keine Frage, viele Gründe für diese Situation liegen bei den sechs Staaten selber. Notwendige Reformen sind noch ausständig und wesentliche Probleme ungelöst. Aber letztendlich ist der Erweiterungsprozess auch ein Geben und Nehmen. Tiefgreifende Veränderungen erfordern Motivation und politischen Willen. Durch das ewige Hinhalten ist dieses schon vielfach verlorengegangen. Vielerorts glaubt die Bevölkerung in der Region nicht mehr an die reale Möglichkeit des Beitritts und hat sich längst russischen oder chinesischen Narrativen angenähert.
Die EU muss daher am Westbalkan in Vorlage treten und damit den Beitrittsprozessen neue Dynamik verleihen. Fortschritte bei der Annäherung müssen im zentralen, geopolitischen Interesse der Union liegen. Überbürokratie und weitere Verzögerungen der Beitrittsverhandlungen durch einzelne Mitgliedsstaaten bewirken hingegen das Gegenteil und schwächen uns insgesamt.
Das soll nicht heißen, dass die Partner am Westbalkan die Reformen nicht weiter vorantreiben und konkret umsetzen müssen – im Gegenteil, es gibt keine Abkürzungen um Vollmitglied der EU zu werden. Allerdings ist es abstrus, wenn so einschneidende Schritte wie die Änderung eines Landesnamens nicht belohnt werden, sondern vielmehr noch weitere, neue Bedingungen gestellt werden, die noch dazu politisch nicht umsetzbar sind. Da verspielen wir den letzen Rest der ohnehin mittlerweile fragilen Glaubwürdigkeit der EU in der Region des Westbalkans.
Außenminister Schallenberg und ich bemühen uns daher seit längerem darum, die wechselseitigen Vorteile der EU-Integration den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen und setzen uns für eine Dynamisierung des Prozesses ein. Wir haben Vorschläge unterbreitet, die greifbare Anreize und Belohnungen für schmerzhafte, aber notwendige Reformen bringen sollen: von der regelmäßigen Teilnahme an Debatten in Brüssel und Luxemburg für die Kandidatenländer, über konkrete, finanzielle Anreize nach Vorbild der Aufbau- und Resilienzpläne bis hin zur viel engeren Zusammenarbeit in konkreten Politikfeldern wie u.a. bei Binnenmarkt, Energie, Umweltschutz, Gesundheit oder Justiz. Diese Vorschläge sollten wir besser heute als morgen in Umsetzung bringen.
Den Westbalkan weitere Jahre links liegen zu lassen, ist brandgefährlich. Die letzten Zwischenfälle zwischen Kosovo und Serbien haben uns vor Augen geführt, wie fragil die Situation in der Region ist. Fortschritt und damit Stabilität ist für die EU eine Frage der Sicherheit. Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine, die Lage in Bergkarabach und die jüngsten Terrorangriffe auf Israel können wir die Augen nicht weiter verschließen und so tun als wären Konflikte in unserer unmittelbaren Nachbarschaft nicht vorstellbar.
Wenn Europa seinen Worten der Solidarität mit dem Westbalkan Taten folgen lassen möchte, sollte es folgende fünf Meilensteine anstreben:
- Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit Bosnien und Herzegowina noch 2023;
- Beitrittskonferenzen mit Albanien und Nordmazedonien Anfang 2024;
- Konkrete Fortschritte mit Montenegro und Serbien vor den EU-Wahlen;
- Anerkennung von Kosovo durch alle EU 27 so bald wie möglich und Verleihung des Kandidatenstatus vor den EU Wahlen;
- Konkretes, individuelles Ziel-Beitrittsdatum für jedes der 6 Länder bei Antritt der neuen EU-Kommission.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die europäische Familie nicht vollständig ist ohne unsere sechs Partner am Westbalkan. Zeigen wir, dass Europa vor seinen Toren – nein, in seinem Innenhof – handlungsfähig ist.